Stufen der moralischen Entwicklung und wie sich diese in Paarbeziehungen zeigen

Wir alle kennen aus den Medien Darstellungen von Männern und Frauen, die ihren PartnerInnen das Leben zur Hölle machen. Was dabei manchmal besonders verstörend wirkt ist die Tatsache, dass sich einige dieser Menschen schlimmer als Tiere benehmen können und trotzdem weder unter Gewissensbissen und Schuldgefühlen leiden noch ein Unrechtsbewusstsein für ihre Taten haben.

Die Gründe für ein solch amoralisches Verhalten liegen dabei meist im Vorliegen von psychiatrischen Störungen wie einer antisozialen oder narzisstischen Persönlichkeitsstörung, einer Suchterkrankung oder zumindest einer niedrigen moralischen Entwicklungsstufe.

Die moralische Entwicklungsstufe erkennt man daran, wessen Bedürfnisse, Wünsche und Interessen jemand bereit ist, in seinen Entscheidungen und Handlungen zu berücksichtigen. Während man auf den niedrigsten Stufen nur am eigenen Vorteil und an der eigenen Wunschbefriedigung interessiert ist, berücksichtigt man auf den mittleren Stufen auch die Interessen der Menschen, die einem nahe stehen. Auf den höheren Stufen erweitert man seine Rücksichtnahme schließlich auf die Perspektiven und Bedürfnisse der größtmöglichen Zahl an Betroffenen.

Dies entdeckte der US-amerikanische Psychologe Lawrence Kohlberg in der Mitte des letzten Jahrhunderts. Er fand heraus, dass sich das moralische Bewusstsein beim Menschen stufenweise und immer in derselben Reihenfolge entwickelt, wobei sich alle Menschen im Kleinkindalter auf den niedrigsten Stufen befinden und sich dann unterschiedlich weit weiterentwickeln. Bei einigen Menschen kommt die moralische Entwicklung jedoch aufgrund unterschiedlicher Einflüsse schon früh zu einem Stopp.

Dies erklärt, warum manche Menschen im Stande sind, Gräueltaten zu begehen, ohne dabei Hemmungen oder gar Schuldgefühle zu haben. Und es erklärt auch, warum viele Menschen mit völlig verschiedenem Maß messen, wenn es um die Frage geht, wie sie andere behandeln dürfen und wie andere sie behandeln dürfen.

In folgenden werde ich dir einen kurzen Überblick über Kohlbergs Stufen der moralischen Entwicklung geben sowie Hinweise darauf, wie sich die moralische Entwicklungsstufe typischerweise auf die Beziehungsgestaltung in Paarbeziehungen auswirkt.

Kohlberg unterscheidet drei Hauptniveaus des moralischen Urteilens, die jeweils aus zwei Unterstufen bestehen: eine prä-konventionelle Ebene (die für Kinder im ersten Lebensjahrzehnt typisch ist, aber auch bei Erwachsenen anzutreffen ist, die in ihrer moralischen Entwicklung aus unterschiedlichsten Gründen stecken geblieben sind), eine konventionelle Ebene (die man bei einem Großteil der Bevölkerung antreffen kann) und eine post-konventionelle Ebene (die weniger als ein Viertel der Bevölkerung erreichen).

 

Die präkonventionelle Ebene

Auf dieser Ebene beurteilt man Gut und Schlecht danach, was für einen selbst dabei herausspringt. Gut ist, was mir nützt, schlecht, was mir schadet. Diese Ebene ist somit zutiefst egozentrisch. Die Interessen und Bedürfnisse anderer werden hier nur berücksichtigt, soweit sie mir nützen.

Stufe 1: Die Orientierung an Strafe und Gehorsam: Auf der ersten Stufe hat man noch kein wirkliches Unrechtsbewusstsein. Handlungen werden als gut oder schlecht beurteilt, je nachdem, welche physischen Konsequenzen sie zur Folge haben.  Schlecht ist, wofür man bestraft wird. Hier ordnet man sich den Regeln unter, die von Autoritäten festgelegt wurden, weil man Strafe und negative Folgen vermeiden will. Negatives Verhalten, für das man nicht erwischt und bestraft wird, wird dagegen als gut bewertet. Auf dieser Stufe rächt man sich an allen bzw. bestraft alle anderen, die einen kränken bzw. einem die eigenen Bedürfnisse nicht erfüllen.

In Paarbeziehungen ist dies der Typ Beutejäger, der den Partner nur als Besitz und Objekt betrachtet, das der eigenen Bedürfnisbefriedigung dient. Funktioniert der Partner nicht so wie er soll bzw. zeigt er eigene Bedürfnisse und Interessen, wird er als ungehorsam wahrgenommen und dafür bestraft und gequält. Auf dieser Stufe sind Partner fast beliebig austauschbar.

Stufe 2: Die instrumentell-relativistische Orientierung: Auf der zweiten Stufe bewertet man Gut und Schlecht anhand einer Art Austauschgerechtigkeit. Man gibt, um vom anderen etwas zurück zu bekommen und man rächt sich für zugefügtes Leid. Die Devise lautet hier „Wie du mir, so ich dir“, „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ bzw. „eine Hand wäscht die andere“. Das vorrangige Ziel ist auch hier die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse und Wünsche.

In Paarbeziehungen sind dies typischerweise Opportunisten und Trophäenjäger. Der Opportunist will hautsächlich seinen Spaß haben. Ein emotionales Miteinander, das Eingehen auf die Bedürfnisse des Partners sowie eine ernsthaftere Investition in diesen sind noch  nicht möglich. Für den Trophäenjäger dient der Partner als Trophäe, die ihren Körper zur Verfügung stellt und gut vorzeigbar ist. Hier wird bereits ein wenig in den Partner investiert. Man setzt ihn aber noch immer gern entwürdigenden Machtspielen aus.

 

Die konventionelle Ebene

Auf dieser Ebene beurteilt man Gut und Schlecht danach, ob eine Handlung den sozialen Konventionen entspricht. Gut ist, was den jeweiligen Gemeinschaftsregeln entspricht, schlecht, was von diesen abweicht. Diese Ebene ist gruppen-zentrisch. Besondere Berücksichtigung finden dabei die Interessen und Bedürfnisse aller Personen, die der eigenen Gemeinschaft (Familie, Verein, Partei, Religion etc.) angehören.

Stufe 3: Die Orientierung an zwischenmenschlichen Beziehungen der Gegenseitigkeit: Auf der dritten Stufe möchte man den Erwartungen der Umwelt entsprechen. Man möchte ein gutes Mitglied der jeweiligen Gemeinschaft sein und empfindet Schuldgefühle, wenn man den Erwartungen der anderen nicht gerecht wird. Gut ist also, was den Bezugspersonen gefällt oder hilft und deren Zustimmung findet. Auf dieser Stufe orientiert man sich an den gängigen Vorstellungen, die einem in der eigenen Gemeinschaft vermittelt werden und die definieren, welches Verhalten richtig oder „natürlich“ ist. Die vorgegebenen Regeln werden dabei nicht hinterfragt.

In Paarbeziehungen wird der Partner ab hier als reale Person wahrgenommen, die eigene Gefühle und Bedürfnisse hat. Diese werden aber nur mehr oder weniger akzeptiert und  befriedigt. Im Vordergrund steht die Erfüllung der eigenen Erwartungen, die dann entsprechend honoriert wird.

Stufe 4: Die Orientierung an Gesetz und Ordnung: Ab der vierten Stufe erkennt man, dass moralische Normen für das Funktionieren und die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung notwendig sind. Die allgemeinen gesellschaftlichen Moralvorstellungen werden akzeptiert und befolgt. Gut ist es, seine Pflichten zu erfüllen, Autoritäten zu respektieren und für die gegebene Ordnung um ihrer selbst willen einzutreten.

In Paarbeziehungen ist es ab Stufe 4 möglich, den Partner nicht mehr nur als Erweiterung des eigenen Selbst wahrzunehmen. Das Glück des Partners wird einem nun genauso wichtig wie das eigene. Eine authentische, auf Gegenseitigkeit basierende Liebe und Verbundenheit ist möglich und wird angestrebt.

 

Die postkonventionelle Ebene

Auf dieser Ebene bewertet man Gut und Schlecht anhand multiperspektivischer Überlegungen und universeller Prinzipien. Gesellschaftliche Regeln werden infrage gestellt und erst nach einer kritischen Prüfung teilweise oder ganz akzeptiert. Nur etwa ein Viertel von Erwachsenen erreicht diese Ebene, die als welt-zentrisch bezeichnet werden kann, da in Ihr die Bedürfnisse und Interessen aller Menschen und Lebewesen berücksichtigt werden.

Stufe 5: Die legalistische Orientierung am Sozialvertrag: Moralische Normen werden jetzt hinterfragt und nur noch als verbindlich angesehen, wenn sie gut begründet sind. Auf dieser Stufe erkennt man, dass die persönliche Sichtweise von Sichtweisen anderer abweicht, die ebenfalls richtig sein können. Man ist sich der Relativität persönlicher Werthaltungen und Meinungen deutlich bewusst und legt dementsprechend Wert auf Verfahrensregeln zur Konsensfindung. Die Richtigkeit einer Handlung bemisst sich tendenziell nach allgemeinen individuellen Rechten und Standards, die nach kritischer Prüfung von der gesamten Gesellschaft getragen werden sollten.

In Paarbeziehungen gilt hier das gleiche wie auf Stufe 4. Durch die verbesserte Fähigkeit und Bereitschaft, die Perspektiven andere einzunehmen und wertzuschätzen, fällt es einem nun sogar leichter, Unterschiede zum Partner zu akzeptieren. Das Glück des Partners ist einem genauso wichtig wie das eigene. Eine authentische, auf Gegenseitigkeit basierende Liebe und Verbundenheit ist möglich und wird angestrebt.

Stufe 6: Die Orientierung an universellen ethischen Prinzipien: Die sechste Stufe wird schließlich nur noch von weniger als 5 % der Menschen erreicht. Die Bewertung von Gut und Schlecht orientiert sich jetzt an universellen Prinzipien der Gerechtigkeit, der Gegenseitigkeit und Gleichheit der Menschenrechte und des Respekts vor der Würde des Menschen als individueller Person. Konflikte sollen argumentativ unter zumindest gedanklicher Einbeziehung aller Beteiligten gelöst werden.

In Paarbeziehungen gilt hier das gleiche wie auf Stufe 5.

 

Im Verlauf der zunehmenden moralischen Entwicklung kommt es somit zu dramatischen Veränderungen in der Art, wie man mit seinen Mitmenschen umgeht und wie man Partner wählt.

Auf den niedrigsten Stufen ist man noch nicht zu echter Partnerbezogenheit fähig. Im Prinzip kommt hier jeder als Sexualpartner infrage, der verfügbar ist und sich auf den Kontakt einlässt. Die Partner sind dabei fast beliebig austauschbar, da es einem nicht um die Person selbst geht, sondern nur darum, dass sie die eigenen Bedürfnisse und Erwartungen befriedigt.

Mit zunehmender Entwicklung strebt man dann immer mehr nach echter Partnerbezogenheit. Die persönlichen Wesenszüge des Partners und die Besonderheit der Beziehung gewinnen dabei an Bedeutung, so dass immer weniger Menschen den eigenen Auswahlkriterien entsprechen.

Auf den obersten Stufen muss es zudem ein Partner sein, der im eigenen Leben einen Sonderstatus einnimmt und sich auf dieser Ebene auch auf einen einlässt. Aus diesem Grund ist zunehmende Entwicklung in gewisser Weise  sehr bedrohlich und heikel. Denn nicht nur wird der Partner unersetzlich, auch die Auswahl der Kandidaten wird immer begrenzter, selbst wenn sich viele Freiwillige anbieten sollten.

Wichtig zu wissen ist auch, dass Entwicklung Zeit benötigt und nur allmählich geschieht. Stufen können nicht übersprungen oder im Eiltempo durchlaufen werden. So ist es auch nicht möglich, dass sich eine Person, der sich momentan z.B. auf Stufe 2 der moralischen Entwicklung befindet, wenige Monate später schon auf Stufe 4 weiterentwickelt hat.

Aus diesem Grund ist kurzfristig keine grundlegende Verhaltensänderung zu erwarten, wenn man an einen Partner geraten ist, der sich auf einer niedrigen moralische Stufe befindet.

Eine der wichtigsten treibenden Kräfte für die moralische Entwicklung besteht darin, sich darin zu üben, andere Perspektiven einzunehmen, eigene Schattenanteile aufzuspüren und zu bearbeiten sowie sich mit moralischen Dilemma-Geschichten (= polar entgegengesetzten Werten) auseinanderzusetzen.

Da man mit PEAT und anderen Polaritäten-Integrationsmethoden genau dies tut, ist die Anwendung dieser Techniken geradezu Dünger für die eigene Weiterentwicklung.

 

Quellen:

Lawrence Kohlberg – Wikipedia

Kohlbergs Theorie der Moralentwicklung – Wikipedia

Schnarch, D. (2006). “Die Psychologie sexueller Leidenschaft”. Stuttgart, Klett-Cotta Verlag.